Das Museum Haus Konstruktiv widmet der französischen Künstlerin Aurélie Nemours (1910–2005) eine Einzelausstellung, die – dank Leihgaben aus Schweizer Privatsammlungen – die unterschiedlichen Schaffensphasen dieser Grande Dame der geometrisch-abstrakten Kunst vorstellt. In der stark männlich dominierten konstruktiven Kunst ist Aurélie Nemours neben Sonia Delaunay und Sophie Taeuber-Arp eine der Künstlerinnen, die dem Kunstkritiker Michel Seuphor zufolge die Entwicklung der abstrakten Kunst in Frankreich wesentlich mitbestimmt haben. Nemours, die erst nach dem Studium der Kunstgeschichte an der École du Louvre eine künstlerische Ausbildung aufnahm, zunächst im Atelier von Paul Colin später bei André Lhote und Fernand Léger, fand in den 1950er Jahren zu einer konsequent geometrischen Bildsprache, die sie bis zu ihrem Tod 2005 weiterentwickelte.
26.10.2017.–14.1.2018
kuratiert von Sabine Schaschl
Bereits 1994 zeigte das Museum Haus Konstruktiv – damals noch unter dem Namen haus für konstruktive und konkrete kunst – die erste Schweizer Museumsausstellung von Aurélie Nemours. Die seinerzeit von der Künstlerin selbst kuratierte Präsentation vereinte Werke aus den konstruktiven Anfängen bis in die 1990er Jahre. Die aktuelle Ausstellung zeigt eine Auswahl von Werken Aurélie Nemours’ aus Schweizer Privatsammlungen. Anfänglich waren es vor allem Sammler in Deutschland, den USA und der Schweiz, die den Stellenwert von Nemours’ Schaffen innerhalb der internationalen Kunst erkannten. Mittlerweile ist ihr Œuvre weltweit in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten und wurde in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gewürdigt. Die Auswahl der Ausstellung im Museum Haus Konstruktiv führt von dem (von Auguste Herbin beeinflussten) Werk Sur le cercle (1950), das bereits in der ersten Einzelausstellung der Künstlerin 1953 in der Galerie Colette Allendy gezeigt wurde, bis zu der in den 1990er Jahren entstandenen Werkfolge Structure du Silence.
Die Eigenständigkeit, Konzentriertheit und Radikalität, die Nemours in ihrer Arbeit als bildende Künstlerin unter Beweis stellte, eignet auch ihrem lyrischen Schaffen. 1954 schrieb sie im Katalog zur Ausstellung im Salon des Réalités Nouvelles:
Dans mon sablier
Contre toute apparence
Le vide monte lentement
Et prend la place du sable
In meiner Sanduhr
Entgegen allem Anschein
Steigt die Leere langsam auf
Und nimmt den Raum des Sandes ein
Dieses literarische Bild umschreibt treffend die künstlerischen Recherchen von Nemours: Die äusserste Vereinfachung ist das Ergebnis eines sehr langen Forschens, das mit Intuition und Versenkung einhergeht. Die Reduktion auf das Essenzielle, die Konzentration auf das Absolute – die Farbe in Einklang und Mehrklang, die Form in Rhythmus und Raster – waren die wichtigen Themen, denen sich Aurélie Nemours widmete. Ihre Werke sind Teil einer Gesamtordnung, die mathematisch fundiert, jedoch nie nur mathematisch rational angelegt ist. So unterscheidet sich das Œuvre Aurélie Nemours’, das der konkreten Kunst zugeordnet werden kann, deutlich von Arbeiten der etwa gleichaltrigen Zürcher Konkreten Max Bill und Richard Paul Lohse: Ausgangspunkt ihrer geometrischen Kompositionen ist vielmehr – ganz ähnlich wie bei Piet Mondrian – die künstlerische Intuition als das streng kalkulierte System. Dass ihr feines Gespür für Form, Farbe und Rhythmus sich dennoch mit logischen Gestaltungsprinzipien verbinden liess, beweisen insbesondere die seriellen Arbeiten, die Nemours in den 1970er Jahren vermehrt entwickelte. Zu ihren bekanntesten Werkserien gehört etwa das über ein Jahrzehnt hinweg erarbeitete Konvolut Rythme du millimètre, aus dem exemplarische Werke im Museum Haus Konstruktiv gezeigt werden. Durch das reduzierte Vokabular, bestehend aus Horizontale, Vertikale, Rechteck, Quadrat und Linie, strahlt Nemours’ Werk eine zeitlose Klarheit aus, durch ihren Umgang mit diesem Vokabular besitzt es Leichtigkeit, Musikalität und Eleganz.