Alicja Kwade

Die Realität scheint eine eindeutige Sache zu sein, solange man nicht darüber nachdenkt, wodurch sie sich konstituiert und wie wir uns dessen vergewissern können. Mit ihren Skulpturen und Installationen tastet sich Alicja Kwade (1979, Kattowitz, PL) kontinuierlich an solche Fragestellungen heran. Ausgehend von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen Überlegungen zur Beschaffenheit von Raum und Zeit kreiert sie formal reduzierte und betörend schöne Werke, die unser Verständnis von Wirklichkeit und unsere tradierten Wertzuschreibungen ins Wanken bringen. Schon kurz nach Abschluss ihres Studiums 2005 an der Universität der Künste in Berlin machte sie mit diesem Ansatz auf sich aufmerksam. Aktuell gehört sie zu den gefragtesten europäischen Kunstschaffenden ihrer Generation und war bereits Teilnehmerin der Biennale von Venedig 2017.
Bekannt wurde sie unter anderem mit der Werkreihe «Parallelwelt»: Zwei identische Personenwagen der Marke Nissan Micra etwa stehen nebeneinander – scheinbar gespiegelt, inklusive Steuerrad, Nummernschild und Dellen! Eine skulpturale Anordnung aus derselben Serie besteht aus zwei unterschiedlich farbigen Kaiser-idell-Tischlampen, die so aneinandergeschoben sind, dass ihre Schirme ein beidseitig reflektierendes Glas zwischen sich festklemmen. Umschreitet man die gepaarten Leuchten, so scheint sich die eine Lampe, bedingt durch den Spiegel, allmählich gleich einzufärben wie ihr Gegenüber. Diese Werke, die mit der Verwendung von Alltagsgegenständen und Spiegeleffekten typisch sind für Kwade, sind mehr als nur optisch irritierende Spielereien: Die Künstlerin bezieht sich damit auf Theorien der zeitgenössischen Physik, die von parallelen Realitäten und zehn bis elf Dimensionen ausgehen. Physikalische Erkenntnisse liegen auch der 2017 entstandenen Arbeit «Idol (30°)» aus der Sammlung des Museum Haus Konstruktiv zugrunde: 2015 konnte die Wissenschaft einen Nachweis für die von Einstein vermutete Existenz von Gravitationswellen finden – Wellen, die durch beschleunigte Masse in der sogenannten Raumzeit ausgelöst werden und die für die Erforschung des Urknalls zentral sind. Mit Uhrzeigern aus Messing hat Kwade nun die «chaotische Ordnung» dieser Gravitationswellen in eine bildhafte Form gebracht. Die Arbeit zeigt beispielhaft, wie Kwade gekonnt abstrakte Begriffe in skulpturale Metaphern überführt, die gleichermassen Erkenntnis und Ungewissheit über die vermeintliche Realität reflektieren.

Deborah Keller
Werke von Alicja Kwade