Ricardo Alcaide (1967, Caracas, VE) lebt nach Stationen in London, wo er studiert hat, und São Paulo, heute in Antwerpen. Bezeichnend für sein Schaffen ist die intensive Beschäftigung mit urbanen Räumen und den darin herrschenden sozialen und ökonomischen Widersprüchen, wie sie sich im Stadtbild widerspiegeln.
Von der Fotografie herkommend, porträtierte der Künstler in frühen Arbeiten die Bewohner:innen der Stadt, auch vor ihrer jeweiligen urbanen Kulisse, wobei er schon bald die Architektur selbst in den Fokus rückte. Die Architektur hatte, wie die abstrakte Kunst, im Venezuela der 1950er-Jahre eine wichtige Rolle gespielt: Während des Regimes von Marcos Pérez Jiménez sollte das Land zum ‹Nuevo Ideal Nacional› transformiert werden, sichtbar auch in Bauprojekten wie Gio Pontis Villa Planchart – für Alcaide eine der wichtigsten Referenzen – oder Carlos Raúl Villanuevas Ciudad Universitaria. In der Werkgruppe «Intrusions» nutzt Alcaide Schwarz-Weiss-Fotografien ebendieser Bauten und übermalt sie mit monochromen geometrischen Elementen. Nicht ohne Ironie verursacht der Künstler dadurch Störungen in denjenigen Räumen, die in der Architekturrezeption als tadellos gelten.
Im Diskurs der Moderne wurden die Komponenten der zeitlichen Veränderung und Zufälle kaum mitgedacht. Beide Aspekte kommen auch in Alcaides Werkreihe «Settlements» zum Tragen: Objekten, die aus vorgefundenen Elementen prekärer Architektur wie Ziegelsteinen, Spanplatten, zerbrochenen Kacheln oder Plastikblachen bestehen. Der Titel verweist auf dauerhafte Siedlungsformen, während die Materialien Fragilität und Provisorium verkörpern – eine stille Reflexion über die Diskrepanzen urbaner Räume.
Solche Widersprüche verarbeitet Alcaide in einer abstrakten Formensprache, die mit Anklängen an die Minimal Art poetische Tiefe entfaltet. Besonders zur Geltung kommt sie in der Werkreihe «Rainbow of Chaos». Das Thema des Regenbogens findet man in Alcaides Werk in zahlreichen Variationen, wobei die Farbpalette nur wenig variiert, meist ist sie in Pastelltönen gehalten.
Ein Beispiel hierfür ist die Installation «Sunset» (2019), Teil der Sammlung des Museum Haus Konstruktiv. Die Arbeit besteht aus sieben schaukastenartigen Wandobjekten in den Farben Gelb, Orange, Apricot, Rosa, Violett, Hell- und Petrolblau. Die aus Polyurethan auf MDF gefertigten Objekte sind durch Linien oder hervorstehende Elemente geometrisch unterteilt (und über die sieben Werke auch mit einer gemeinsamen Horizontlinie vereint). Erst aus der Nähe wird erkennbar, ob die Unterteilungen gemalt oder tatsächlich physisch eingefügt sind – ein Trompe-l’œil-Effekt, der eine Betrachtung aus verschiedenen Blickpunkten fordert.
Für Alcaide spielen hier zahlreiche Gedanken mit. Der Sonnenuntergang ist einerseits Kindheitserinnerung, die Erinnerung an ein Aufwachsen in einem prosperierenden Venezuela, andererseits steht er für das gleissende Licht des Untergangs – und ist somit auch politisch konnotiert. Er wird zu einem Sinnbild der Verbindung von Gestern und Heute und letztlich der Unendlichkeit.
Im Laufe der Jahre hat Alcaide seine Formensprache zunehmend abstrahiert und reduziert, ohne dabei seine subtile Kritik an der Politik aufzugeben. So fügt er etwa bemalte Ziegelsteine in seine Wandobjekte ein und lässt dabei eine Assoziation zu jenen populistischen Massnahmen zu, die versuchen, die Problematiken der Favelas lediglich durch bunte Fassadengestaltungen zu kaschieren.
Muriel Pérez