Das Volk der Azteken, einst beheimatet im heutigen mexikanischen Raum, verfasste bereits in präkolumbianischer Zeit aufwendige Codices, die sich mit ihrer Geschichte, Religion und Kultur auseinandersetzten. Die «Schrift», die in diesen Codices Verwendung fand, besteht sowohl aus Piktogrammen (Bild-Zeichen) als auch aus Phonogrammen (Zeichen, die einen bestimmten Laut wiedergeben).
Würde man nun die Kunstwerke von Rodrigo Hernández (1983, Mexiko-Stadt, MX) neben diese Codices halten, wären die Verwandtschaften sofort augenfällig. In seiner Malerei und in seinen Wandobjekten finden sich Formen, die entweder an abstrahierte Wesen oder menschliche Körperpartien denken lassen: Arm und Hand, ein Auge oder gleich das ganze Gesicht. Der Mensch als Motiv kommt in Hernández’ Werken immer wieder zur Geltung, allerding stets zurückgeworfen auf eine absolute Vereinfachung, auf die nötigsten bildlichen Elemente zur Identifikation: Nase, Mund, Augen, Arme, Hände und Beine – es sei denn, es handelt sich ohnedies um einen Kopf ohne Körper. Hernández scheint so eine Art Projektionsfläche anzubieten, einen Ur-Menschen, in dem sich alle (männlichen) Personen, egal welcher Couleur, erkennen können.
Eine der Inspirationsquellen, die in Bezug auf Hernández immer wieder genannt werden, ist der Künstler Miguel Covarrubias (1904–1957), der sich ebenfalls mit der indigenen mexikanischen Kunst auseinandersetzte und diese auch in seine surrealistischen Wandmalereien in Kalifornien einfliessen liess. Einen ähnlichen Ansatz pflegt Hernández, indem er die verschiedensten Quellen zusammenführt; seinen Stil bezeichnet er als «persönlichen Synkretismus».
Rodrigo Hernández, der nun schon länger in Europa lebt, wählt also bewusst eine Sprache (oder Schrift), die universell versteh- und entzifferbar ist. Diese Verbindung von Elementen seiner Heimat Mexiko mit einer allgemeinen Formsprache ist nicht nur ein pointierter Kommentar zu unserer globalisierten Kunstwelt, sondern ergeben für alle Betrachter einen Echoraum, in dem man sich Fragen stellen kann zum Verständnis vom «Fremden» oder eben eigentlich universell Menschlichen.
Linda Christinger