Kabel, Altöl und Asphalt sind exemplarische Bestandteile im konzeptuell geprägten Schaffen von Vanessa Billy (1978, Genf, CH). Charakteristisch für ihre Arbeit sind Materialien, die wir im Alltag geflissentlich übersehen. Billy, die 2012 mit dem Werkstipendium des Kanton Zürich und 2014 mit dem Swiss Art Award ausgezeichnet wurde, studierte von 1998 bis 2001 am Chelsea College of Art in London. Ihr Atelier befand sich damals in einem Viertel, das stark von baufälliger Architektur und Rohmaterial geprägt war; ein Eindruck, der sich in ihrem künstlerischen Schaffen wiederfinden lässt. Ihre Arbeiten kreisen um Themen wie Technologie und Energie – und stets steht der Mensch im Zentrum. Industriell gefertigte Materialien werden jenseits ihrer eigentlichen Funktion zu beredten Objekten, die uns die von uns selbst erschaffene Welt vor Augen führen. Sie regen uns dazu an, uns mit der Verantwortung, die wir unserem Planeten gegenüber tragen, auseinanderzusetzen.
Billys Titel geben oft einen Hinweis zur Entschlüsselung der Werke. Ein Beispiel dafür ist «Clear as Mud» von 2013. Über einem mit einer trüben Brühe gefüllten Glas hängt eine Glühbirne, die den Schlamm von oben herab beleuchtet. Das Paradoxe des Sprichworts, das für etwas schwer Verständliches, Undurchsichtiges steht, wird bildlich dargestellt. Ähnlich funktionieren «Large Burst I» und «Large Burst II», die tatsächlich eruptiv anmuten. Die an Palmen erinnernden Plastiken entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Bündel von auf Stahl montierten Glasfaser- und Starkstromkabeln. Während der untere Teil fest verschnürt ist, explodiert der obere in alle Richtungen. Die Kabel, die als unsichtbare, unterirdische Infrastruktur die Welt unterwandern und auf die wir uns tagtäglich wie selbstverständlich verlassen, wirken ausserhalb ihres funktionalen Kontexts beinahe organisch und dadurch fremd. Und so verändern diese beiden Werke unseren Blickwinkel. «Wir haben uns am ‹Bauen› erfreut, wie beispielsweise daran Öl zu Plastik verwandeln» sagt Vanessa Billy dazu, «und jetzt müssen wir lernen, abzubauen. Nichts verschwindet, es ändert vielleicht den Zustand, aber es verbleibt, wir leben in einem geschlossenen Kreislauf.» Mit «Large Burst I & II» war Vanessa Billy in der Gruppenausstellung «Konkrete Gegenwart – Jetzt ist immer auch ein bisschen gestern und morgen» vertreten, die das Museum Haus Konstruktiv 2019 präsentierte. Die Ausstellung folgte dem institutionellen Auftrag des Hauses, das Fortwirken der konstruktiv-konkreten und konzeptuellen Kunst im zeitgenössischen Kunstschaffen aufzuzeigen – und was könnte den Nerv der Zeit besser treffen als ein formal ebenso präzise wie luzide gestaltetes Werk zum Thema Umwelt und zur Abhängigkeit des Menschen von Technologie?
Ruth C. Kistler